Digitale Straße

Digitale Zwillinge orchestrieren den Verkehr der Zukunft

Professor Dr. Alois Knoll lehrt an der Technischen Universität München und ist Spezialist für Robotik, Künstliche Intelligenz und Echtzeitsysteme. Der Mobilitätsexperte leitet das Verkehrsprojekt Providentia++ und erklärt im Interview, wie Digitale Zwillinge auf den Straßen für mehr Sicherheit und weniger Staus sorgen.

Welche Erkenntnisse haben Sie bisher aus Providentia++ ziehen können?

Das Forschungsprojekt Providentia++ hat innerhalb der ersten drei Forschungsjahre bis Ende 2019 bereits gezeigt, dass ein sogenannter digitaler Zwilling des Verkehrs prinzipiell machbar ist. Ein digitaler Zwilling ist ein möglichst vollständiges Abbild des realen Verkehrsgeschehens im Speicher eines Rechners. Wenn dieses Abbild mit hoher Präzision und schritthaltend mit der Dynamik des Verkehrs erstellt werden kann, öffnen sich ganz neue Möglichkeiten zur Steuerung und Optimierung des Verkehrs sowie zur Verbesserung der Sicherheit und allgemeinen Informationsversorgung – sowohl für Fahrer als auch insbesondere für Assistenzsysteme. Auf der Autobahn A9 bei Garching beobachten acht Kameras und acht Radare durchgehend das Verkehrsgeschehen. In der zweiten Phase des Projekts – Providentia++ – geht es darum, den Autobahnzwilling deutlich zu verfeinern und vor allem robuster zu ma-chen. Wichtigstes Projektziel ist aber die Ausweitung des Raumbereichs des Zwillings in den Stadtverkehr zu ermöglichen. Auf der Autobahn müssen zumeist nur Fahrzeuge erfasst werden, im Stadtverkehr häufig zusätzlich Radfahrer und Fußgänger. Als zusätzliche Informationsquelle werden hier Lidare eingesetzt werden, die die Radare und Kameras ergänzen. Ein Lidar ist eine dem Radar verwandte Methode, zum Beispiel zur optischen Abstands- und Geschwindigkeitsmessung.

Welche wichtigen Hinweise liefert Providentia++ für 5G und für die Normungen des Mobilfunks der 5. Generation?

Generell gibt es derzeit zwei Technologien, die in der Kommunikation zwischen Fahrzeugen und Infrastruktur diskutiert werden. Einige Autohersteller bevorzugen ein spezielles WLAN, das auf den Stadtverkehr angepasst ist. Mobilfunk auf dem Stand von 5G erscheint für die Providentia++-Infrastruktur besonders geeignet. Providentia++ kann hierbei aufgrund der praktischen Anwendung und theoretischer Untersuchungen wichtige Hinweise für benötigte Bandbreiten, Latenzzeiten, Reichweiten, Kommunikationsinhalte und -pfade liefern.

 

Welche Mehrwerte werden für die Gesellschaft durch Providentia++ generiert?

Klar ist: So wie momentan darf es mit dem Verkehr nicht weitergehen. Er muss intelligenter werden. Dafür ist die Vernetzung und darauf aufbauend eine deutliche Verbesserung der schritthaltenden Zustandserfassung eine wichtige Voraussetzung. Unsere Forschung zur verbesserten Echtzeit-Informationsversorgung von Fahrern, Assistenzsystemen, selbstfahrenden Fahrzeugen und Streckenbetreibern sind entscheidend wichtig, wenn es darum geht, Mobilität sicherer und komfortabler zu machen. Dafür ist die Vernetzung von Fahrzeugen untereinander und auch mit der Infrastruktur, wie Kameras, Schilderbrücken oder Ampeln die Grundlage. Der von Providentia++ erzeugte digitale Zwilling spielt dabei eine Schlüsselrolle für die Assistenzsysteme der Zukunft, weil er zielgerichtet Informationen an die Fahrzeuge liefern kann, die diese mit eigener Sensorik nicht erfassen können. Zum einen kann man von einer Schilderbrücke oder einem Mast hinab eine viel bessere Übersicht über das Geschehen auf der Straße bekommen als von der Fahrzeugebene allein. Man kann mit einem über größere Raumbereiche erzeugten Zwilling weit voraussehen – und damit auch weit vorausplanen. Schließlich kann man die Sensorik in der Infrastruktur sehr viel aufwändiger und damit präziser und robuster ausführen als im Fahrzeug. Am besten nimmt man auch noch die Information, die die fahrzeugeigene Sensorik liefert, beim Aufbau des Zwillings dazu. Dazu müssen die Fahrzeuge natürlich über Mobilfunk die notwendigen Daten an die Infrastruktur liefern.

Um den Zwilling aufzubauen und dann damit den Verkehrsfluss zu verbessern, muss im Übrigen nicht jedes Fahrzeug vernetzt sein. Es reicht, wenn etwa jedes fünfte technisch entsprechend weit ist. Die EU-Verkehrsminister haben kürzlich in der Passauer Erklärung noch einmal ausgeführt, wie ihr „Smart Deal for Mobility“ aussieht. Digitale Infrastruktur als Grundlage für die digitale Vernetzung, 4G- und 5G-Mobilkommunikation sowie kooperative intelligente Transportsysteme spielt dabei eine genauso wichtige Rolle wie die Automatisierung der Verkehrsträger und deren intelligente Vernetzung. Providentia++ ist damit ein Vorreiterprojekt für die Erreichung dieser Ziele. Denn es zeigt schon heute auf, welches Potenzial in der Kombination der Sensor-Technologien und der digitalen Vernetzung an sich steckt.

Können die Forschungsergebnisse auch auf andere Lebensbereiche übertragen werden und wenn ja, wo und wie und welche Chancen würden hier für die Gesellschaft entstehen?

Das kommt darauf an, welche Aspekte in dem sehr facettenreichen Forschungsprojekt Sie gerade ansprechen. In Providentia++ geht es darum, prototypisch Sensorstationen aufzubauen, Sensordaten zu sammeln, zu fusionieren und ein Maximum an Erkenntnissen daraus zu gewinnen. Wir nutzen Daten dafür, Entwicklungen zu prognostizieren und über künstliche Intelligenz Vorhersagen zutreffen. Diese Fähigkeiten werden nicht nur in Verkehr und Mobilität immer wichtiger, bekannte Beispiele der Informationsaggregation zur Verbesserung der Entscheidungsfindung aus anderen Bereichen sind:

  • In der Medizin kann intelligente Mustererkennung von Röntgenaufnahmen Ärzte bei der Diagnose von Krankheiten unterstützen. Je mehr Schnittbilder zur Verfügung stehen, umso besser sind neuronale Netze in der Lage, Anomalien zu erkennen.
  • In Maschinen kommen immer mehr Sensoren zum Einsatz, deren Werte ständig analysiert werden. Baut man damit einen digitalen Zwilling einer ganzen Fabrik, kann man viel leichter überblicken, wo ein Fehler auftritt oder sich auch nur andeutet und welche Konsequenzen er hat, und dann ggf. automatisch eine Wartung zu veranlassen. Ausfallzeiten werden vermieden.
  • Riesige Datenmengen entstehen beispielsweise auch im Online-Handel. Wenn man die Daten über Käufe geschickt kombiniert, kann man daraus sehr zielgerichtete Empfehlungen erzeugen – Providentia++ kann in Zukunft ebenso Empfehlungen für Manöver an die Fahrzeuge senden, basierend auf dem Globalblick, den wir haben.

Sie sehen: Die digitale Vernetzung und die Informationsaggregation spielen in verschiedensten Disziplinen eine immer wichtigere Rolle.

Wie kann ein so genannter Mischverkehr von dem Projekt profitieren? Wie würden nicht vernetzte Auto- und Radfahrer sowie Fußgänger über mögliche Gefahren im Verkehr rechtzeitig informiert werden?

Ein Mischverkehr aus konventionellen und vernetzten Fahrzeugen wird noch viele Jahre den Verkehr auf unseren Straßen bestimmen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht von intelligenten Fahrzeugen profitieren könnten. Wie gesagt: wenn nur jedes fünfte Fahrzeug im Verkehr vernetzt ist, hat das schon einen nachgewiesenen Einfluss auf andere. Sie passen sich an und sorgen dafür, dass insgesamt angemessener gefahren wird, mit dem zusätzlichen Effekt, dass der Durchfluss zunimmt und Staus vermieden werden können. Für Fußgänger und Radfahrer bedeutet das ein enormes Plus an Sicherheit. Dazu ein Beispiel: Lidare an Kreuzungen können einen „Rundumblick“ aufbauen. Vernetzte LKW, die nach rechts abbiegen wollen, können damit eine präzise Warnung bekommen, wenn Fahrradfahrer oder Fußgänger die Straße gerade überqueren wollen. Vernetzter Verkehr kann aber auch dazu beitragen, das Verhältnis zwischen Kraftfahrzeugen sowie Radfahren und Fußgängern zu verändern. Denn man wird Daten darüber haben, wie die Mobilität der Zukunft optimal aussehen sollte. Und das ist nicht automatisch der Autoverkehr.

Wie ist Huawei an dem Projekt beteiligt und welche Vorteile liefert die Huawei-Technologie?

Huawei war insbesondere in der Aufbauphase ein unentbehrlicher Partner, als 5G-Basistationen errichtet und mit entsprechenden Modems ausgestattet wurden. Die Funktechnologie 5G spielt in unserem Projekt eine Schlüsselrolle. Denn 5G ermöglicht uns, Informationen aus dem digitalen Zwilling allen vernetzten Fahrzeugen sehr sicher und gezielt zur Verfügung zu stellen, ohne jegliche Zeitverzögerung. Besonders hinsichtlich der Latenzzeiten, der Verlässlichkeit und der Durchsatzraten sowie perspektivisch auf dem Weg zu 6G sind auch in der Zukunft noch weitere Anpassungen nötig.

Was reizt Sie als Wissenschaftler persönlich an dem Projekt und welche Ziele möchten Sie damit erreichen?

Providentia++ gehört zu den spannendsten Projekten im Verkehrsbereich, die man sich vorstellen kann. Es ist nicht nur extrem facettenreich – denken Sie an die sehr praktischen Projektbereiche wie Planung und Errichtung von Infrastruktur mit der übrigens sehr aufge-schlossenen Autobahndirektion Süd, an die Integration der Hard- und Software, die weiträumige zuverlässige Datenkommunikation. Es ist vor allem aber „cutting edge“, d.h. viele der Dinge, die man benötigt, müssen von uns erst entwickelt werden, das ist auch global gesehen Spitzenforschung – so wie man das von der TU München eben gewohnt ist. Das Ziel Spitzentechnologieentwicklung werden wir erreichen; das über das Projekt hinausgehende Ziel des Aufbaus solcher Systeme obliegt allerdings dem politischen Willen.


Prof. Dr. Alois Knoll

Prof. Dr.-Ing. habil. Alois Christian Knoll (*1961) lehrt an der Technischen Universität München und ist Spezialist für Robotik, Künstliche Intelligenz und Echtzeitsysteme. Seine Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf Cyber-physical Systems, Entwicklungswerkzeuge für fehlertolerante Systeme, kognitive und sensor-basierte Roboter und Medizinrobotik. Außerdem leitet er das Verkehrsprojekt Providentia++.



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