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ARTIKEL AUS UNSEREM POLITIKBRIEF, AUSGABE 5 | 2020
Logistik

Coronakrise kurbelt Digitalisierung von Lieferketten an

Professor Dr. Michael Huth, Dozent für Logistik und Supply Chain Management an der Hochschule Fulda, über Chancen im Bereich Logistik mit Hilfe von neuen Technologien.

Neue Technologien verändern das Risikomanagement von Lieferketten und machen sie zuverlässiger

Eine digitale Lieferkette erfasst alle Lieferbeziehungen und alle Lieferanten eines Unternehmens und deckt die komplette Wertschöpfung eines Produktes ab. Bei einem Unternehmen wie VW können das bis zu 5000 direkte und eine Million indirekte Zulieferer sein, die ihre Dienstleistungen, die zur Herstellung eines Fahrzeugs führen, beisteuern. Angefangen bei der Rinderzucht zur Gewinnung des Leders für die Sitze über den Abbau der Werkstoffe für die Herstellung von Motoren bis hin zur Fertigung von Kabelsträngen kann die sogenannte Supply Chain allein in der Automobilindustrie 15 verschiedene Stufen und mehr umfassen, ermittelte die Universität der Bundeswehr München. Um die daraus resultierende Flut an Daten aus verschiedenen Systemen zusammen zufassen und in Echtzeit zu analysieren, werden zur Optimierung von Lieferketten Technologien wie Internet of Things (IoT), Blockchain, Big Data Analytics, Algorithmen für maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz eingesetzt.

Nahtloser Informationsfluss

Und so funktioniert eine intelligente Lieferkette: Sie beginnt damit, dass Nachfragedaten schon frühzeitig digital ausgetauscht werden, sodass innerhalb der Lieferkette alle Akteure möglichst gut planen können, beispielsweise die benötigten Kapazitäten, aber auch die eigenen Beschaffungsaktivitäten. Algorithmen, die auf künstliche Intelligenz aufbauen, unterstützen als Prognosesysteme die Planung und Steuerung der Lieferketten. Statusangaben zur Lieferung werden automatisiert erfasst und in Echtzeit weitergegeben, wobei die entsprechenden Systeme miteinander verlinkt sind, so dass keine Medienbrüche entstehen. Mögliche Planabweichungen werden ebenfalls automatisiert erfasst und weitergegeben. Damit lassen sich frühzeitig Alternativen ermitteln und umsetzen. Bei gekühlten Produkten wie Lebensmitteln oder Pharmazeutika werden Klimadaten an den einzelnen Stationen vorab übermittelt, um die Einhaltung der Kühlkette zu gewährleisten. Die Entladung eines LKWs oder Containers erfolgt durch automatische Fördergeräte, die Waren werden via Barcode oder RFID erfasst und verbucht, gleichzeitig werden die Vorgänge mit Kameras festgehalten. Falls die Einlagerung manuell erfolgt, erhalten die Mitarbeiter über Augmented-Reality-Brillen Anweisungen, wo die Waren eingelagert werden sollen. Dasselbe gilt für Kommissionierung und Verpackung. Alternativ erfolgt die Kommissionierung über spezielle Roboter, die auch heterogene Packstücke greifen und zum Packplatz bringen können. Im Warenausgang werden die Produkte ebenfalls digital erfasst und verbucht. Die Versandinformationen werden realtime an den Empfänger gesandt. Drohnen dienen zur Inventur und ­nutzen Barcodes und RFID. Nachfrage- und Bestandsdaten werden konstant miteinander abgeglichen und unmittelbar für Nachbestellungen genutzt.


„Die Coronakrise macht deutlich, dass ein Risikomanagement für Lieferketten in vielen Unternehmen nicht wirklich etabliert ist.“
Professor Dr. Michael Huth


Digitalisierung führt zur qualitativ besseren Planung

Der Schlüssel zum Erfolg einer Lieferkette ist ein frühzeitiger und unternehmensübergreifender Informationsaustausch. Dadurch wird eine Störung rechtzeitig erkannt und eine schnelle Reaktion ermöglicht, ganz gleich, wodurch die Unterbrechung hervorgerufen wurde. Kommt es zu einer Lieferkettenunterbrechung, leiden Käufer und Lieferanten gleichermaßen.

Katastrophen wie der SARS-Ausbruch 2003 in Südchina oder der Vulkanausbruch 2010 in Island sorgten für Produktionsstillstände. Auch die derzeitige Situation zeigt auf, dass viele Lieferketten von den Auswirkungen der Pandemie mit voller Wucht getroffen wurden. „Trotz aller Schwierigkeiten, die sich ergeben haben, konnten in Deutschland durch erheblichen Einsatz aller Beteiligten die Lieferketten weitgehend am Laufen gehalten werden. Aber auf der anderen Seite macht die Coronakrise deutlich, dass ein Risikomanagement für Lieferketten in vielen Unternehmen nicht wirklich etabliert ist“, sagt Professor Dr. Michael Huth von der Hochschule Fulda.

Das bewies auch die von der Hochschule Fulda durchgeführte Studie „Digitalisierung in Supply Chains“, die im Frühjahr 2019 veröffentlicht wurde. Die Ergebnisse waren ernüchternd. Die Umsetzung hinkte deutlich hinter den Erwartungen her, die durch Best-Practice-Beispiele in den Fachmedien noch geschürt wurden. „Das beginnt damit, dass viele Technologien nicht einmal bekannt sind“, erklärt Prof. Dr. Huth. „Aber auch die Anwendung von Digitalisierungstechnologien zeigt sehr viel Luft nach oben. Die Top-3-Anwendungen waren Cloud Computing mit 52 % Anwendung im Regelbetrieb, Roboter und Automatisierung mit 47 % sowie Big Data Analytics mit 34 %.“

Risikomanagement mit niedrigem Reifegrad

Der Dozent für Logistik und Supply Chain Management weiter: „Auf Basis einer aktuellen Umfrage, deren Ergebnisse in Kürze als Studie veröffentlicht werden, zeigt sich, dass Supply Chain Risk Management nach wie vor einen recht niedrigen Reifegrad in Deutschland aufweist. Um ein Risikomanagement betreiben und widerstandsfähige Lieferketten aufbauen zu können, ist es wichtig, frühzeitig alle nötigen Informationen zu erhalten. Eine digitalisierte Lieferkette trägt dazu bei, Risiken frühzeitig zu entdecken, um ihnen dann entgegenwirken zu können.“ Vor diesem Hintergrund werde die Coronakrise zu einer stärkeren Digitalisierung von Lieferketten beitragen, ist sich der Wirtschaftswissenschaftler sicher.

Dabei können Unternehmen jeder Branche und jeder Größe vom Einsatz digitaler Technologien profitieren. Große Unternehmen tun sich erfahrungsgemäß leichter, umfangreichere Investitionen zu stemmen, wohingegen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sehr gezielt vorgehen müssen. „Der zunächst wichtigste Punkt für KMU ist, eine konkrete Digitalisierungsstrategie zu entwickeln. Hier zeigen sich, so die Ergebnisse unserer Studie, noch erhebliche Lücken. Dann sollte das nötige Know-how über Digitalisierungstechnologien für Lieferketten aufgebaut werden, um zielgerichtet die passenden Technologien auswählen und einsetzen zu können. Kleine und mittlere Unternehmen können dabei durch Branchenkooperationen oder die Zusammenarbeit mit Hochschulen und Universitäten mögliche Größennachteile ausgleichen“, empfiehlt der Professor.

Letztlich sei es eine Investitionsrechnung. Die Unternehmen müssen sich fragen, welche Kosteneinsparungen sie mit den Technologien erzielen. Welche Umsatzsteigerungen ab welcher Prozessmenge, welchem Volumen, welcher Laufzeit möglich sind und wann sich die Investitionen in die Digitalisierung ihrer Lieferkette amortisieren.


„5G trägt dazu bei, dass viele der genannten Technologien, insbesondere das Internet of Things, leichter und schneller Daten austauschen.“
Professor Dr. Michael Huth


5G stärkt Digitalisierung von Lieferketten

„Zu den maßgeblichen Technologien bei der Digitalisierung von Lieferketten gewinnt neben Big Data Analytics das Internet of Things weiter an Bedeutung“, sagt Prof. Dr. Huth.

„Unsere Studie zeigt auf, dass knapp 60 Prozent der beteiligten Unternehmen eine Umsetzung von IoT bis 2024 planen, 39 Prozent sogar bis 2021. Die Vorteile der digitalen Vernetzung von ‚Dingen‘ werden also als sehr stark eingeschätzt. Um eine solche Vernetzung zu ermöglichen, sind natürlich andere Technologien erforderlich, beispielsweise Sensor-Technologie, um Orte, Zustände oder Bewegungen von ‚Dingen‘ zu erfassen und dann weiterzugeben. Die Verarbeitung dieser Sensordaten kann dann wiederum durch cloud-basierte Anwendungen erfolgen.“

Die Etablierung digitaler Lieferketten wird von der Einführung von 5G unterstützt. „Ob Cloud Computing, Big Data Analytics, Robotik, Internet of Things, 3D-Druck, digitaler Zwilling, künstliche Intelligenz, Virtual Reality, Blockchain – jede einzelne Technologie führt zu einer stärkeren Digitalisierung von Lieferketten“, fasst Prof. Dr. Huth zusammen. „5G trägt dazu bei, dass viele der genannten Technologien, insbesondere das Internet of Things, leichter und schneller Daten austauschen können, sowohl innerhalb eines Unternehmens als auch innerhalb einer Lieferkette. Von daher hat auch 5G einen Einfluss auf die Geschwindigkeit, mit der die Digitalisierung in Supply Chains umgesetzt wird.“

Aus der Coronakrise werden viele Unternehmen ihre Lehren ziehen und in digitale Lieferketten investieren. Diese Unternehmen werden langfristig die Gewinner auf dem internationalen Markt sein.

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Professor Dr. Michael Huth ist seit 2016 wissenschaftlicher Leiter des Forschungsverbundes „Hochschule Fulda am House of Logistics and Mobility – HOLM”. Der promovierte Betriebswirt hat diverse Publikationen veröffentlicht und Studien geleitet und war Gastdozent an verschiedenen internationalen Universitäten, u. a. 2019 an der Tomas Bata University in Zlín, Tschechische Republik (ERASMUS)



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