Pressing Index, Packing Rate, Raumkontrolle: Statt aufs Bauchgefühl verlassen sich Fußballvereine bei
ihren Entscheidungen immer häufiger auf Künstliche Intelligenz (KI) und Big Data – sei es bei der Trainingssteuerung,
auf der Suche nach den talentiertesten Nachwuchsspielern oder mit Blick auf die Festlegung der Matchtaktik.
Schulterzucken und Kopfschütteln: Lange Zeit gehörten diese Bewegungsmuster zum FC Midtjylland. Der Provinzklub
aus Mitteljütland, rund 250 Kilometer nordwestlich von Kopenhagen gelegen, spielte in der 1991 gegründeten dänischen
Superliga regelmäßig gegen den Abstieg, kämpfte immer wieder mit finanziellen Problemen. Bis 2014: Da übernahm Matthew
Benham das Ruder. Der englische Physiker und Inhaber des Sportanalyseunternehmens Smart Odds stellte eine Bedingung: den Verein auf
Basis der von ihm entwickelten Algorithmen und Statistiken zu führen.
KI schießt Tore
Zur Bewertung seiner Spieler greift der Verein seitdem auf Performance-Indikatoren zurück,
wie sie auch in der freien Wirtschaft üblich sind. Auf dieser Basis entwickelte Smart Odds individuelle Leistungsprofile
für jeden Spieler. Spielzüge, Standards, Laufwege und Transfers ließ Benham auf Grundlage mathematischer Modelle und
statistischer Analysen errechnen. Mit Erfolg: KI schoss Tore und gewann Spiele. 2015 holte Midtjylland trotz eines vergleichsweise geringen Budgets die dänische Meisterschaft, schlug in der Europa League gar den mit vielfachem Etat
ausgestatteten Traditionsclub Manchester United. „Anstelle von Gefühlen haben wir jetzt Fakten“, sagte der damalige Trainer
des FC Midtjylland, Glen Riddersholm. „Und das gibt uns das Vertrauen, vor nichts Angst haben zu müssen, wenn wir gut arbeiten.“
Das funktioniert bis heute: Nach dem erneuten Titelgewinn 2018 spielt der FC Midtjylland auch in der Saison 2019/20 wieder um die dänische Meisterschaft mit.
Datenbanken statt Berater, Geld und Bauchgefühl
Längst ist der FC Midtylland überall: KI und Big Data, Begriffe einst reserviert für die Welt der Großindustrie,
Banken und Internetkonzerne, haben sich mittlerweile auch in der Fußballwelt einen festen Platz erobert: von Werder Bremen, über Bayern München bis hin zur deutschen Nationalmannschaft. Und selbst Vereine aus dem Amateurbereich greifen immer häufiger darauf
zurück: digitale Hard- und Software, die dazu beitragen soll, Trainingssteuerung und Spielanalyse objektiv zu
optimieren. Geld schießt Tore? Das jahrelange Credo im Profifußball verliert zusehends an Aussagekraft. KI plus
Big Data heißt die neue Zauberformel – wer sie ignoriert, verliert.
Pressing Index und Packing Rate
Ob Pressing Index oder Packing Rate, Raumkontrolle oder Passeffektivität: Statt aufs Bauchgefühl verlassen sich auch
im Fußball immer mehr Vereine auf das professionelle Sammeln und Analysieren von Daten. Ob es um digitale Videocockpits
oder Player Dashboards bei der Trainingssteuerung geht, um die Suche nach den talentiertesten Nachwuchsspielern oder die
Festlegung der Taktik fürs nächste Spiel: Entscheidungen treffen Trainerstäbe und Manager heute auf Basis umfassender
Datenbanken, in denen jeder Quadratzentimeter des Spielfelds, jede Eigenheit, jeder Laufweg eigener und gegnerischer
Spieler gespeichert sind. Millionen Euro für Spieler auszugeben, von denen die Verantwortlichen vor dem ersten Training höchstens mal
ein Video gesehen haben? Das will und kann sich heute kein Verein mehr leisten.
Millionen für digitale Analysetools
Statt in zeit- und kostenintensive Scoutingreisen mehrköpfiger Trainerstäbe rund um den Globus investieren
Clubs heute lieber in intelligente Analysetools. Oder übernehmen – wie Arsenal London mit der US-Firma
StatDNA für vier Millionen Pfund – gleich ganze Unternehmen, die auf solche Analysen spezialisiert sind.
Weltweit aktive Statistik- und Analysefirmen wie OptaPro, Stats und Wyscout sammeln Daten und werten sie aus.
Auch der Dax-Konzern SAP hat eine Cloud-basierte Softwarelösung (siehe Infobox) entwickelt, die auf Hochleistungs-Hardwareplattformen
von Huawei aufgebaut ist. 40 Mitarbeiter kümmern sich um 1.600 Kunden aus dem Bereich Sport und Entertainment –
darunter 18 deutsche Proficlubs ebenso wie die deutsche Nationalmannschaft, die SAP-Software zu Trainingszwecken und für Taktikschulung nutzen. Zum Beispiel über ein Stärken-Schwächen-Profil jedes Spielers im Verhältnis zum Gegner.
Digitale Technologie schießt zwar immer noch keine Tore, kann aber dabei helfen, Spiele zu gewinnen –
zum Beispiel mit SAP Sports One. Die Cloud-basierte Softwarelösung basiert auf Hochleistungs-Hardwareplattformen
von Huawei, ist modular aufgebaut und mithilfe von Apps über Smartphone oder Tablet nutzbar. Historische Informationen
aus Millionen Spielinformationen – Pässen, Laufverhalten und Torschüssen – fließen genauso ein wie aktuelle Sensordaten
aus dem Training. Große Datenmengen aus dem Internet der Dinge lassen sich so für den Fußball in Echtzeit verarbeiten.
So bewältigt die Software 77,7 Millionen Positionsdaten der Spieler in einer Trainingsstunde. Sensoren in den Stutzen
der Spieler übertragen 4.200 Positionsdaten pro Sekunde auf die Datenbank SAP HANA. Ob Spielstatistiken, Fitnessdaten
der Spieler, Informationen über Verletzungen, die Medikation und den Heilungsverlauf, Trainingsdaten, Spielanalysen und
Scouting-Notizen: Diverse unterschiedliche Daten fließen auf der Cloud-basierten Plattform zusammen und stehen jedem
autorisierten Nutzer zur Verfügung. Zehn bis 15 Prozent Verbesserung sind drin, sagen Experten.
Vom Schmierpapier zum Mausklick
Vorbei auch die Zeiten, in denen Trainer mit analytischen Fähigkeiten als Fußball-Professoren oder Laptop-Trainer
verschmäht wurden. Sogar selbsternannte Straßenkicker wie Mehmet Scholl priesen bei der Europameisterschaft 2016
die neue Packing-Software des Ex-Bundesliga-Profikollegen Stefan Reinartz als „neuen Gral des Fußballs“. Der
sagenumwobene Zettel, der Deutschlands Nationaltorwart Jens Lehmann bei der WM 2006 beim Elfmeterschießen im Viertelfinale
gegen Argentinien half, gleich zwei Mal in die richtige Ecke zu tauchen, liegt längst im deutschen Fußballmuseum in
Dortmund. Und wirkt, gerade mal ein gutes Jahrzehnt später, wie ein Relikt aus der Steinzeit der Spieleranalyse.
„Ob wir wollen oder nicht: Die digitale Wende des Fußballs hat längst begonnen.“
– Fußball-Autor Christoph Biermann
Statt auf Bleistiftnotizen auf verknittertem Schmierpapier verlassen sich Torhüter heute auf die detaillierte Auswertung
terabytegroßer Datenbanken und Videos potenzieller Schützen, die sie sich mit ein paar Mausklicks in allen gewünschten
Perspektiven, Geschwindigkeiten und Ausschnitten vor Augen führen können. „Noch ist nichts pfannenfertig, aber die Dinge
liegen auf dem Tisch. Wer sie nicht nimmt, ist selbst schuld“, schreibt Fußball-Autor Christoph Biermann in seinem Buch
„Matchplan“. „Ob wir wollen oder nicht: Die digitale Wende des Fußballs hat längst begonnen.“
310 Millionen Datenpunkte
In einer groß angelegten Studie, finanziert durch die Deutsche Fußball Liga, analysierte Daniel
Memmert vom Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Deutschen Sporthochschule
Köln gemeinsam mit dem Sportinformatiker Jürgen Perl von der Universität Mainz 50 Spiele der
Bundesligasaison 2014/15 mit dem Analysetool „Soccer“. Zusammen kamen 310 Millionen Datenpunkte
aus mehr als 4.200 gespielten Minuten. Die Datenanalyse zeigt: Es gibt neue Indikatoren (siehe Glossar),
die viel mehr über die spielerische Qualität eines Teams aussagen als Ballbesitz oder Eckenverhältnis:
-
Raumkontrolle
Welche Spieler sind am besten positioniert, um das Spielfeld zu kontrollieren?
-
Pressing Index
Wie schnell attackiert eine Mannschaft nach Ballverlust?
-
Passeffektivitätsparameter
Wie effizient schaltet eine Mannschaft Gegenspieler durch einen Pass in Vorwärtsrichtung aus?
Selbst über eine Analyse von Blickrichtung oder Hirnaktivität der Spieler wird schon nachgedacht.
Mit Machine Learning zum WM-Titel
2014 entdeckte auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) die Chancen, die in der damals noch SAP Match Insights
genannten Software steckten, und setzte sie im WM-Jahr 2014 erstmals ein – mit Erfolg. „Bei der deutschen Nationalmannschaft
haben wir eine unglaubliche Datenmenge, die wir verarbeiten und am besten in Echtzeit an die Trainer, die Spieler und auch
die Analysten weitergeben müssen“, sagt Oliver Bierhoff, Manager der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Denn wer seine
Gegner kennt, ist klar im Vorteil. Die Software sammelte Daten zu vergangenen Spielen und Taktiken der teilnehmenden Teams,
sodass Teamcoach Joachim Löw sein Team optimal auf das bevorstehende Turnier einstellen konnte. Der Trainerstab des DFB nutzte
die Software, um Spiele vor- und nachzubereiten und den Spielern Spielanalysen sowie rollenbasierte, individualisierte
Berichte zukommen zu lassen. Später verfeinerte SAP das Tool mit Videocockpit und Player Dashboard. Dort erhalten
die Spieler gezielt die für sie relevanten Informationen. Künftig sollen Machine Learning und Künstliche Intelligenz
die Spielbeobachtung erleichtern. Ein Algorithmus erkennt dann bestimmte Situationen in einem Spiel selbstständig.
Datenanalyse in der Halbzeitpause
Der koreanische Anbieter bepro11 hat sich auf die kamerabasierte Analyse von Spielszenen spezialisiert.
Drei hochauflösende Kameras zeichnen Spiel- und Trainingsgeschehen auf und liefern in kürzester Zeit entscheidende
Einblicke und Erkenntnisse. Angewendet wird das Tool bereits in der englischen Premier League. Dort beeilt sich
Jürgen Klopp, Trainer des FC Liverpool, nach dem Pausenpfiff in die Kabine zu kommen. Der Grund: Fehler, aber auch
gelungene Aktionen kann Klopp mittels fertig editierter Videoclips noch während der Halbzeitpause seinen Spielern veranschaulichen.
Karriereplanung mit Künstlicher Intelligenz
Auch die Scouts profitieren auf ihrer Suche nach Nachwuchstalenten von der Digitalisierung.
Mit Sports One können sie ihre Favoriten verfolgen, Wettbewerbs- und Spielerinfos auf einer
Plattform einholen und sowohl ihre Bemerkungen als auch Analysen hinzufügen. Goalimpact aus Hamburg nimmt anhand
von Zahlen ganze Karriereprognosen vor. Sensible Performance- und Gesundheitsdaten sind laut SAP in der
Cloud sicher aufgehoben. Die Hoheit über die Daten haben die Vereine.
Werden Trainer arbeitslos?
Dass zum Fußball aber nach wie vor auch Spielwitz, taktische Flexibilität und vor allem Erfolgswille gehören, erfuhr die
deutsche Elf leidvoll bei der WM 2018, bei der die Schützlinge von Joachim Löw trotz Big-Data-Unterstützung bekanntlich
sang- und klanglos nach der Vorrunde ausschieden. „Big Data wird den Trainer nie ersetzen“, sagt Sportwissenschaftler
Memmert. „Es braucht immer noch sein Gehirn, um geeignete Schlüsse aus den Indizes zu ziehen.“