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Gesundheitssystem: jedem Menschen sein digitaler Zwilling

Big Data und Künstliche Intelligenz sind seine Eltern. Der digitale Zwilling, ein Begriff aus der Industrie 4.0, schafft neue Optionen für die Diagnose und Behandlung von Krankheiten. Und eine Gesundheitsversorgung mit individualisierter Medizin.

Zum ersten Mal bekommt die erschöpfte Mutter ihr Neugeborenes in den Arm gelegt. Die Hebamme hat die U1 abgeschlossen, Marie ist kerngesund und bekommt die volle Punktzahl im APGAR-Test. Die Ergebnisse der Untersuchung gibt die Hebamme in den Computer ein. In Zukunft könnten sie zusammen mit dem Geburtsbericht den Grundstock für Maries digitalen Zwilling bilden. In den nächsten Jahren werden ihre Eltern das System weiter mit Daten füttern. Marie bekommt das Dreitagefieber, Keuchhusten und gleich zweimal die Windpocken. Sie reagiert allergisch auf ein Antibiotikum, das üblicherweise bei Infekten des Mittelohrs zum Einsatz kommt. Alle Impfungen, die Untersuchungsergebnisse des Kinderarztes und die der Schuluntersuchung folgen. Im Erwachsenenalter übernimmt Marie selbst die Pflege ihres Avatars. Jetzt trägt sie außerdem eine Smartwatch, die kontinuierlich ihre Vitaldaten übermittelt. Parallel mit Marie ist ein kostbarer Datenschatz herangewachsen. Wenn sie künftig ernsthaft krank wird, wird ihr Arzt jeden Therapievorschlag zunächst an ihrem virtuellen Organismus testen. Nur wenn die Behandlung in der Simulation die gewünschte Wirkung zeigt, kommt sie real bei Marie zum Einsatz.

Die Behandlung verbessern und Kosten senken

Jedem Menschen sein individueller Digital Twin: Diese Digitalisierung des Gesundheitswesens könnte in Zukunft die Behandlung vieler Krankheiten verbessern wie auch vereinfachen und dabei sogar die Kosten senken. „Natürlich sind zu Beginn enorme Investitionen notwendig. Doch das Konzept digitaler Zwillinge bietet uns auf Dauer die Chance, sowohl bei der Prävention als auch bei der Diagnostik und Therapie hohe Summen einzusparen und Patienten gleichzeitig gezielter und besser zu behandeln“, prophezeit Michael Burkhart, Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft bei der Unternehmensberatung PwC.

Die Forschung geht das Thema bereits an. Sie will zunächst ein allgemeines digitales Abbild des Menschen erschaffen: In einem ersten Schritt werden neuronale Netzwerke anhand von Millionen Datensätzen (Big Data) trainiert. Dann kombinieren diese Netze die einzelnen Daten zu einem ganzheitlichen physiologischen Modell. Der digitale Zwilling eines einzelnen Organs wird schon früher verfügbar sein.

So können in naher Zukunft Chirurgen am digitalen Modell eines Herzens schon vor dem ersten Schnitt einschätzen, ob die gängige Operationsmethode einer kardialen Resynchronisationstherapie (CRT) Patienten mit einer Herzinsuffizienz helfen wird. Hierbei setzt der Operateur einen Schrittmacher ein, um das Herz neu zu synchronisieren. Das Problem: 30 bis 50 Prozent der behandelten Patienten sprechen auf die Therapie nicht an. Könnten die Ärzte die Operation zunächst simulieren, bliebe vielen Patienten ein sinnloser Eingriff erspart.

Wie funktioniert personalisierte Medizin?

Zurzeit funktioniert die Suche nach der passenden Behandlung nach dem Trial-and-Error-Prinzip. Denn ob und wie eine Therapie tatsächlich wirkt, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch erheblich, abhängig unter anderem von Alter, Geschlecht, Lebensstil und genetischer Disposition. Außerdem ändern wir über unseren gesamten Lebenszyklus hinweg immer wieder unsere Gewohnheiten und Lebensumstände. Medizinische Behandlungen müssen daher enorm flexibel sein. Die medikamentöse Therapie zu personalisieren stellt die Medizin vor eine große Herausforderung. Denn Medikamente wirken auf viele biochemische Abläufe – und jeder Körper ist anders. Klinische Studien geben einen Hinweis, können aber nur einen Durchschnitt über Hunderte Personen abbilden.


    Kann Künstliche Intelligenz Menschen heilen?

    In der personalisierten Medizin sind Medikamente individuell dem Stoffwechsel und Erbgut eines Menschen angepasst. Es gibt momentan zwei Ansätze:

  • Big Data. Eine Software analysiert möglichst viele Patientenakten und Studien. Erkrankt ein Mensch beispielsweise an einem bestimmten Lungenkarzinom, durchsucht eine Künstliche Intelligenz die gesamten Daten nach Parallelen. Diesen Weg geht IBM mit der Plattform Watson

  • Beim zweiten Ansatz simuliert ein Computer die biochemischen Abläufe im menschlichen Körper.

  • Deutsches Marktvolumen bis 2025: 38 Milliarden Euro

  • „Damit die personalisierte Medizin allen Menschen zugutekommt, braucht es einen offenen Zugang zu den Daten“, so der Medizininformatiker Jonathan Chen von der Stanford University.


Die Idee der personalisierten Medizin: Jeder Patient erhält genau die Behandlung, die auf seinen Körper, seine Gene, seinen Stoffwechsel abgestimmt ist. Per Computersimulation ließe sich dies einfach testen. Denn das virtuelle Abbild eines Menschen ermöglicht es, zu zeigen, wie sich seine digitale Gesundheit am besten wiederherstellen lässt. Hiervon verspricht man sich viel genauere Diagnosen sowie eine individuelle Therapie mit gezielten Anwendungen bei weniger Fehlbehandlungen und unerwünschten Nebenwirkungen.

Der Crashtest-Dummy für die bestmögliche Versorgung

Ein virtuelles Modell jedes Menschen ließe sich anhand medizinischer Bilddaten sowie der Daten aus EKG oder MRT errechnen. Big-Data-Technologien und KI sorgen für ein kontinuierliches Update aus den Datenquellen. André Nemat, Chirurg und Gründer des Instituts für die digitale Transformation der Gesundheitsbranche an der Universität Witten/Herdecke, definiert den Digital Twin sogar als „Gesamtheit aller jemals von einer Person erhobenen Daten“ – weit über den Bereich der rein medizinischen Informationen hinaus.

„Je mehr Informationen zu einer Person vorliegen, umso personalisierter kann eine Behandlung auf das Individuum zugeschustert werden. “ André Nemat, Chirurg und Gründer des Instituts für die digitale Transformation der Gesundheitsbranche an der Universität Witten/Herdecke

Von Geburt an flössen alle elektronischen Daten zu Lebensführung, E-Mails und Online-Suchen in Kombination mit unseren Gesundheitsdaten ein. Der Digital Twin würde über die Jahre immer genauer. Im besten Fall ließen sich auf diese Weise gesundheitliche Probleme bereits vorhersehen, noch bevor sie überhaupt klinisch erkennbar wären. Ginge es nach dem Willen des Humangenetikers Hans Lehrach, hätte bald jeder Mensch sein eigenes Simulationsmodell. „Man wird den Zwilling auch verwenden, wenn man für einen Marathon trainiert. Die Simulation sagt dann, wie man sich im Training ernähren soll.“ Und mit den anonymisierten digitalen Kopien von Millionen Menschen ließen sich klinische Studien durchführen, ohne dass jemand Schaden nähme.

Datenschutz mit höchster Priorität

Laut einer Studie von PwC wären aktuell acht von zehn Deutschen grundsätzlich bereit, einen virtuellen Doppelgänger von sich entstehen zu lassen. Die meisten von ihnen können sich die Computersimulation allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen vorstellen, etwa im Fall einer chronischen oder seltenen Erkrankung (41 bzw. 38 Prozent). Am besten sollten intelligente Pflaster, alternativ Wearables oder Gesundheits-Apps die Daten auslesen und übertragen. Aber in puncto Datenschutz zeigen sie sich skeptisch: 80 Prozent sind besorgt, dass ihre Daten in die falschen Hände geraten könnten und beispielsweise an die Krankenkasse weitergeleitet werden. Das größte Vertrauen haben die Befragten in ihren Arzt – er sollte Zugriff auf die Daten haben, finden 59 Prozent. Den Krankenkassen oder der Pharmaindustrie wollen sie ihre Daten hingegen nicht oder nur in Ausnahmefällen zur Verfügung stellen.

Brauchen wir einen Digitaler-Zwilling-Spenderausweis?

Rolf Schwartmann, Leiter der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht an der Technischen Hochschule Köln und Mitglied der Datenethikkommission der Bundesregierung, geht der Frage nach, was nach dem Tod eines Menschen mit dessen digitalem Avatar geschieht. Seine Idee: Statt die großen Datenmengen eines ganzen Lebens einfach zu löschen, könnten sie zum Beispiel per Spenderausweis der Forschung zwecks Analyse zur Verfügung gestellt werden.



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Weiterlesen

https://medizin-und-technik.industrie.de/allgemein/was-ein-mehr-an-simulation-bringt-auch-fuer-die-medizintechnik/

https://www.pcwelt.de/a/digitale-medizin-die-zukunft-des-gesundheitswesens,3448754

https://www.mckinsey.de/~/media/mckinsey/locations/europe%20and%20middle%20east/deutschland/news/presse/2018/2018-09-25-digitalisierung%20im%20gesundheitswesen/langfassung%20digitalisierung%20im%20gesundheitswesen__neu.ashx


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